Wer in Deutschland heute so alles „umstritten“ ist

Manche Persönlichkeiten werden in der Öffentlichkeit gerne als „umstritten“ bezeichnet – und damit an den Rand des erlaubten Meinungskorridors geschubst. Denn bei diesem schwammigen Wort schwingt viel Unausgesprochenes mit.

Vor einigen Jahren wurde vom Deutschen Sprachrat mithilfe einer Jury das schönste Wort der deutschen Sprache gesucht. Der Sieger hieß „Habseligkeiten“, vor „Geborgenheit“, die „Rhabarbermarmelade“ landete auf Platz fünf. Das ähnlich wohlklingende „blöde“, bei dem ich sofort an „blöken“ denke, kam nicht in die Spitzengruppe.

Bald darauf suchte eine andere Jury das schönste „bedrohte Wort“, gemeint war die Bedrohung durch Aussterben, nicht durch politische Korrektheit. Hier siegte „Kleinod“ vor „blümerant“ und „Dreikäsehoch“. Falls jemals der Titel „Blödestes deutsches Wort“ vergeben werden sollte, nominiere ich „umstritten“.

Umstritten ist fast alles auf Erden. Gott und die Vereinten Nationen sind umstritten, ebenso das Reinheitsgebot beim Bier und der Karneval. Irgendwer hat halt immer was dagegen, bei Gott sind es die Atheisten, bei den UN Nordkorea und bei den Büttenreden die Karnevals-Skeptiker. Ein Kritiker des vielleicht allzu strengen Reinheitsgebots ist übrigens der Braumeister Götz Steinl aus Truchtlaching.

Mit den Worten des wegen gewisser Mafiakontakte umstrittenen Künstlers Frank Sinatra sage ich: Umstritten? That’s life. Eine Zeit lang dachte ich, Loriot sei unumstritten gewesen, aber das traf nur auf seine letzte Lebensphase zu. Dem jungen Loriot wurde Belanglosig- sowie Niveaulosigkeit vorgeworfen, von den Dödeln.

„Dödel“ ist, by the way, ein wunderschönes Wort. Habe ich erwähnt, dass in deutschen Texten eingestreutes Englisch umstritten ist?

„Umstritten“ meint in der Regel „rechts“

Heute wird das Wort „umstritten“ verwendet, um Personen zu kennzeichnen, die sich irgendwann jenseits des Korridors der gern gesehenen, bis zum Ermüdungsbruch des Denkapparats wiederholten und dringend empfohlenen Meinungen und Verhaltensweisen aufgehalten haben. Welche das aktuell sind, wird, soweit ich weiß, in der Redaktionskonferenz des „Spiegel“ wöchentlich festgelegt und dann an Wikipedia gemailt.

„Umstritten“ heißt also nicht, dass jemand kritisiert wird, denn das werden fast alle. Die Autorin Monika Maron hat im Interview gesagt, das Prädikat „umstritten“ sei ein Über-die-Grenze-Schubsen, man werde damit als „rechts“ oder „neurechts“ einsortiert. Das Wort „rechts“ aber kann man bei einigen Leuten, die stören, beim besten Willen nicht verwenden, es wäre zu offensichtlich gelogen. (Monika Maron „Mit ‚umstritten‘ fängt es an, dann ist man ‚rechts‘ oder ‚neurechts‘“ )
Folglich nimmt man „umstritten“. Als einige kein bisschen rechte Schauspieler Videos drehten, die sich satirisch mit den Corona-Maßnahmen befassten, war dies also eine „umstrittene Aktion“. Satire darf alles – außer Umstrittensein.

Auch bei den meist ablehnenden Besprechungen des neuen Romans von Uwe Tellkamp fehlt selten der Hinweis, dass er ein „umstrittener Autor“ sei. Dieser Fall ist besonders kurios, weil Tellkamp als Autor anfangs ungewöhnlich unumstritten war, sein erster Roman wurde von Teilen der Fachwelt sogar mit Thomas Manns Werken verglichen. (Tellkamp und der deutsche Debattenklimawandel)

Ich lese ja ungern Texte mit so ellenlangen Sätzen. Falls der neue Roman wirklich schwächer ist als der vorherige, wäre dies der Normalfall eines Autorenlebens, niemand ist immer gleich gut. Das Adjektiv „umstritten“ hat Tellkamp seinen politischen Äußerungen zu verdanken. Falls es also Manuel Neuer einfallen würde, etwas irgendwie Tellkampartiges zu sagen, wäre er ein „umstrittener Torwart“, auch wenn er im nächsten Spiel drei Elfmeter hält.

Ein Tipp für die nächste Duden-Ausgabe: Als Synonyme für „umstritten“ kommen bürgerlich, konservativ, liberal, skeptisch, nachdenklich, respektlos, frech, unbefangen oder unkonventionell infrage, eventuell auch hochbegabt. Personen, auf die kein einziger dieser Begriffe zutrifft, sind unumstritten.

Insofern lege ich Wert auf die Feststellung, ebenfalls ein umstrittener Autor zu sein, und drohe hiermit allen, die mich „unumstritten“ nennen, mit einer Klage wegen übler Nachrede. Sollte ich das Wort aber früher ein paar Mal selber verwendet haben, mir wird ganz blümerant bei diesem Gedanken, dann möge es gelöscht und durch eine Distanzierung des Verlages ersetzt werden.

P.S.:  Wer suchet, der findet!
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Medienspiegel:

2022-01-04 Kurier 

Europarechtler Obwexer erklärt, warum eine Klage der Umweltministerin gegen die Einstufung von Kernenergie als “grün” kaum Aussicht auf Erfolg hätte.

2022- link – source

Leserbriefe:

Für den Müll öffnen
Erschienen am So, 25.7.2021

Tonnen an Lebensmitteln landen bei uns im Müll öffnen
Erschienen am So, 25.7.2021