Klaus Woltron: Wer die Wahrheit spricht, braucht ein schnelles Pferd

Der kontinentale Selbstbetrug.
In bewährter Weise war der erste Brüsseler Reflex auf die von ihr verschuldete Krise ein Appell an die Solidarität und der Ruf nach gleichmäßiger Verteilung des Übels.
Vom einheitlichen Sparziel blieb nichts übrig. Mehr Ausnahmen als Regeln.

Sei vorsichtig: Du wandelst auf dünnem Eis!“ Diesen Rat gab mir ein politischer Haudegen anlässlich meiner widerspenstigen Kommentare. Er riet mir, Steuerbescheid, Handy-Inhalt und das Sicherheitssystem des PC kritisch zu überprüfen. Ausspionieren wäre nämlich Routine, um störrische Unbequeme zu diskreditieren. Die Antwort, dass die Füße kuschelig warm und mein Steuerbescheid ein Trauerspiel wären, beruhigte ihn nicht. Gestern wiederum erreichte mich die Botschaft eines pensionierten Journalisten und Renner-Preisträgers: „Kommt nächste Woche dann Ihr Loblied auf Putin und Orbán? Ich sage jetzt nicht, dass Sie Putins Pudel sind. Aber Ihr ewiges EU-Bashing halte ich nicht mehr aus.“ Auf mein artiges Ersuchen – „Weisen Sie mir ein einziges Faktum nach, das nicht streng den Tatsachen entspricht. Dann beuge ich das Haupt in Demut!“ – folgte brüllendes Schweigen.

„Wer die Wahrheit spricht, braucht ein schnelles Pferd“, meinte schon Konfuzius (K’ung-fu-tzu, 552–479 v. Chr.). Gut so! Erneut sporne ich meinen Rosinante wie einst Don Quichotte, der Ritter von der traurigen Gestalt – auch wenn es derzeit nicht genug Windräder gibt.
„Es ist, wie so oft in den vergangenen Jahren“, so ein Brüssel-Kenner. „Die Krise ist so gewaltig, dass es die EU entweder zerreißt oder dass sie weiter zusammenwächst.“
Als man jüngst versuchte, die ungewollten Folgen der Druckprobe, die man Russland durch Strafaktionen auferlegte, in den Griff zu bekommen, torkelte die EU in eine gefährliche Situation. Sie ging so aus wie jene am 3. Juni 2022 in der OMV: Im Zuge der vorgeschriebenen Wasserdruckprobe kam es zu einem Leck der Rohöl-Destillationsanlage. Die Folgen: Diesel wurde knapp, die Nationale Treibstoffreserve muss herhalten, die Preise klettern in ungeahnte Höhen.
Das Gleiche spielt sich in großem Stil in ganz Europa auf dem Energiemarkt ab. Es explodieren zwar nicht die Rohre, dafür aber die Preise, und der Nachschub droht zu erliegen.
Von der Leyens salbungsvoller Notfallplan
Was tun? In bewährter Weise war der erste Brüsseler Reflex ein Appell an die Solidarität und der Ruf nach gleichmäßiger Verteilung des Übels. Am 29. Juli kündigte Kommissionspräsidentin von der Leyen salbungsvoll einen Gasnotfallplan an. „Es ist wichtig, dass alle Mitgliedsstaaten die Nachfrage drosseln, alle mehr speichern und mit denjenigen teilen, die stärker betroffen sind.“ Staaten, die weniger berührt werden, mögen mit jenen teilen, die stark von russischem Gas abhängen. Liege ein echter Notstand vor, würde die Kommission geringeren Verbrauch „verbindlich anordnen“.
Nach dem üblichen Gezeter verkündeten die EU-Energieminister am 26. Juli das Resultat einer empörenden Packelei: Vom einheitlichen 15%-Sparziel blieb buchstäblich nichts übrig. Irland, Malta, Zypern, Estland, Lettland, Spanien, Portugal und Litauen werden ausgenommen oder erhalten Sonderregelungen. „Kritische Industrien“ werden völlig vom Sparen ausgeschlossen. Das „verbindliche Anordnen“ entfällt. Die Staaten haben sich so viele Ausnahmen ausbedungen, dass bei extremer Kälte Gasmangel droht.
Dieses zahnlose Machwerk wird als Beweis für Geschlossenheit der EU gepriesen: Ein klassisches Beispiel für kontinentalen Selbstbetrug.
Gleichmäßige Verteilung ist die stets beschworene Kurpfuscherei gegen alle Übel, welche im Reiche von der Leyens auftauchen. Ob Wirtschaftsflüchtlinge, Pleitegefahr im Süden, Versäumnisse in der Energiepolitik – als Erstes kommt reflexartig der Ruf nach europäischer Solidarität. Ob sie im Falle eiskalter Duschen, stillstehender Fabriken und weiter explodierender Preise funktionieren wird? Im Unterschied zu anderen Verteilungsexperimenten werden die Folgen schnell und schmerzhaft für jeden Einzelnen fühlbar. Dementsprechend düster ist das Gewölk, das sich über den Häuptern der Staatenlenker zusammenbraut.
Auch hierzulande zeigt sich das Versagen vorausschauender Energiepolitik. Nach und nach kommt zutage, dass wir keinen konkreten Zugriff auf etliche Speicher in Österreich haben. „Wir werden alle Gasspeicher im Staatsgebiet an unser Netz anschließen“, verkündete die Energieministerin mit gewohnt ernster Miene. Sie erwartet, dass „ein erster Anschluss“ des großen Speichers Haidach in Salzburg an das österreichische Gasnetz „noch in diesem Jahr“ stattfinden werde.
Eine tröstliche, aber um Jahre verspätete Nachricht! Alsbald folgten entrüstete Kommentare der Bayern, welche bis dato zusammen mit der russischen Gazprom exklusiv über diesen Speicher verfügten. Begeisterung versprühte unsere Energie-Leonore anlässlich einer Frohbotschaft der OMV Mitte Juni. Letztere sicherte sich die Möglichkeit, Erdgas aus Norwegen und den Niederlanden nach Österreich zu bringen. Angesichts der unbeantworteten Frage, wie viel von dieser Energie am Ende tatsächlich in den heimischen Heizungsrohren landen wird, trübt sich die Freude jählings ein: Die Möglichkeit wurde gesichert, das harte Faktum bleibt leider ungewiss. Die Frage der Solidarität und der Zugriffsrechte hängt wie ein Damoklesschwert über uns allen.
Unsere Politik scheint auskunftsfreudig
wie Putin
Wie wäre es, würde man uns endlich reinen Wein einschenken und gestehen, wie viel Gas, unter Einbeziehung all der erwähnten Fragen, dem schlotternden Bürger im kommenden Winter real zur Verfügung stehen wird? Dass dabei Putin eine unkalkulierbare Größe darstellt, ist unbestritten. Unsere Verantwortlichen scheinen, was den Informationsstand über die Lage betrifft, nicht auskunftsfreudiger zu sein als der undurchschaubare Puppenspieler im Kreml. Oder wissen sie nicht darum?