Klaus Woltron: EU in Geiselhaft

Während die Völker aufeinandereinschlagen, erreicht die Inflation bei uns die 10%-Grenze.
Den Konflikt müssen wir Europäer ausbaden. Hier wurden schwere Fehler gemacht.

Die Welt ist in Aufruhr!“, so UNO-Generalsekretär Guterres vor 140 Staatschefs. Dazu ein Paukenschlag: Putin ordnet eine Teilmobilisierung der Streitkräfte an und hält im Donbass Referenden über einen Beitritt zur russischen Föderation ab: „Wir werden alle Ressourcen nutzen, um unsere Leute zu verteidigen.“ Dmitri Medwedew, stv. Leiter des Sicherheitsrates der russischen Föderation: „Nach Beitritt können alle Mittel des Selbstschutzes genutzt werden.“
Ukrainische Gegenoffensiven wären dann ein direkter Angriff auf Russland.
„Die Ukraine wird die russische Frage klären. Die Bedrohung kann nur mit Gewalt abgewendet werden“. So der Leiter des ukrainischen Präsidialamts, Andrij Jermak.
„Der Krieg in der Ukraine muss mit einer strategischen Niederlage von Präsident Putin zu Ende gehen“, äußerte Victoria Nuland, Unterstaatssekretärin im US-State-Department – jene Dame, die 2014 am Telefon mit Botschafter Wyatt plauderte: „Fuck EU!“ („Scheiß-EU!“) Wyatt erwiderte: „Oh, genau, und ich denke, wir müssen etwas machen … “ Das, was seither von allen Seiten „gemacht“ wurde, müssen wir derzeit ausbaden.
Während die Völker solcherart aufeinandereinschlagen, erreicht die Inflation die bedrückende 10%-Grenze. Die Erzeugerpreise in Deutschland, Europas wichtigster Volkswirtschaft, stiegen im August um 45,8%, der höchste Anstieg seit Beginn der Erhebungen 1949. „Essen oder frieren“ lautet die Alternative. Vollmundige Durchhalteparolen der EU verstärken die Skepsis: Die Rede zur Lage der Union riss Kommissionspräsidentin von der Leyen zu apostolischer Erhabenheit hin: „ … Wendepunkt in der Weltpolitik … Niederlage Russlands … Heldenmut der Ukrainer“ … , tönte das Echo der Stimme Amerikas aus Brüssel.
Ein Unbeabsichtigtes Eingeständnis
Wie die gepeinigten Bürger der EU aus der Misere herausfinden sollen, kam nicht zur Sprache.
In den letzten Wochen erzielten die ukrainischen Truppen bedeutende Gebietsgewinne, was einen Teil der russischen Armee zu einem überhasteten Rückzug zwang. Dieser Teilerfolg bedeutet eine beachtliche Motivation für die ukrainischen Truppen und deren politische Führung. „Die letzten Tage haben gezeigt, dass die Ukraine effektive Pläne schmieden kann, basierend auf Wissen, Beratung und innovativem Nutzen von Hightech-Waffen aus Amerika.“ („New York Times“) – Ein unbeabsichtigtes Eingeständnis, dass in der Ukraine die USA und Russland mit dem Blut der ukrainischen Soldaten und auf Kosten der europäischen Bevölkerung um die Weltherrschaft fechten.
Die ukrainische Führung, die NATO und die vereinigte Presse rufen nach weiteren schweren Waffen, die EU beschließt zusätzliche Milliardenhilfen. Der Triumph über den Land-Rückgewinn der Ukraine erreicht ungeahnte Höhen: Man sieht bereits die Krim herausgehauen und Putin geschlagen. Der leckt seine Wunden und sinnt auf Rache – auch in anderen Gegenden und mit machtvollen Partnern.
In der ehemaligen Residenz des asiatischen Eroberers Tamerlan, der usbekischen Stadt Samarkand, trafen einander Putin und Xi und begründeten eine Zusammenarbeit, welcher Putin den Namen „Außenpolitisches Tandem“ verlieh. Damit wolle man dem Anspruch der USA, „der ganzen Welt deren Regeln aufzuzwingen“, Einhalt gebieten. Ein neuer Kalter Krieg wurde ausgerufen. In der Zwischenzeit rächten sich die gedemütigten russischen Militärs: In weiten Teilen der Ostukraine fiel nach Angriffen auf Kraftwerke und einen Staudamm der Strom aus.
Was wird weiter geschehen? „Ohne Führung treiben Institutionen und Nationen, riskieren wachsende Bedeutungslosigkeit, schließlich eine Katastrophe“, so der frühere US-Außenminister Henry Kissinger.
Wer führt die EU? Der Rat? Die Kommissionspräsidentin? Die Zentralisten um Herrn Karas? Eine klare Botschaft, außer flügellahmen Bekenntnissen zu „europäischen Werten“, die im jeweiligen konkreten Fall geflissentlich beiseitegeschoben werden, ist nicht zu entdecken. Die Europäische Union gedieh, in Ermangelung einer eigenständigen Politik, zu einem Schwanz, mit dem die USA wedeln. Bei der Besichtigung eines Shaolin-Klosters in China vor drei Jahren fragte ich den Reiseführer, einen gebildeten, Deutsch sprechenden Chinesen, um seine Meinung zur EU. Er sah sich diskret um und versetzte: „Mir scheint, dort gibt es keine Führung. Ohne Führung kann kein Land erfolgreich sein, auch kein Bündnis.“ Was sich derzeit leidvoll bestätigt.
Dass Putin hofft, Europa werde aus der Solidaritätsfront aussteigen, ist zurzeit die einzige, leider defensive Sorge, welche die EU halbwegs eint.
Europas verpasste Chance
All die Orakelsprüche echter und selbst ernannter Experten dürften Träume aus einer Kristallkugel sein. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre traten jene Ereignisse, die den Gang der Dinge wirklich beeinflussten, unerwartet und unvorhersehbar ein: Schwarze Schwäne der Geschichte. „Kriege muss man ausdämpfen, so lange sie noch klein sind“, heißt es. Das wurde 2013 versäumt. Damals verpasste Europa die Jahrhundertchance, Frieden durch Einführung der Neutralität der Ukraine zu stiften. Diese wurde von Frau Merkel & Co. vertan. „Wir benötigen Hilfen von mehreren Milliarden Euro“, forderte der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch. Frau Merkel: „Ich komme mir vor wie auf einer Hochzeit, auf der der Bräutigam in der letzten Minute neue Bedingungen stellt.“ Die Hochzeit platzte (Vilnius, Nov. 2013).
Niemand vermag vorauszusagen, wie es weitergehen wird. Die damals provozierte Scheidung von Russland und Europa gedieh zu einem „unguided missile“, einem steuerlosen Geschoß. Wo immer es einschlägt: Es wird alle treffen, auch jene, die es abgefeuert haben.