Zuerst an den Pranger, dann erst vor Gericht

read 3 minutes
Es gäbe brillante Literatur, mit der Martin Kušej das Publikum über den aktuellen Anlass hinaus sensibiliseren könnte.

Die Verlesung der Chats zählt nicht dazu.

Beinahe so widerwärtig wie die machtgeile Hybris der einen ist dieser Tage die zur Schau getragene moralische Selbstgefälligkeit der anderen, die mit der Verlesung der Chatprotokolle auf der Bühne des Burgtheaters ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Selbst im Mittelalter wurden nicht die eines Verbrechens verdächtigten, sondern bereits von einem Richter verurteilten Menschen an den Pranger gestellt. Im 21. Jahrhundert funktioniert das offenbar anders herum: Zuerst der (sozialmediale) Schandpfahl, dann die Gerichtsverhandlung. Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich muss die WKStA ungehindert ermitteln können und strafrechtlich Relevantes vor Gericht bringen. Nicht nur die buchstabengetreue Einhaltung der Gesetze ist für Politiker zwingend, sondern auch ein ethisches Bewusstsein. Dass aber nun mutmaßliche Rechtsbrüche mit Rechtsbrüchen wie dem Leaken beschlagnahmter Chats und Smsereien geahndet werden, ist befremdlich.

Worüber man zuletzt tatsächlich staunen konnte: Dass nicht immer vom Feinsten ist, wie sich Politiker gegenseitig titulieren, wenn sie glauben, es sei privat und niemand höre zu. Wobei der„Arsch“, mit dem Sebastian Kurz seinen Vorgänger in einem privat geglaubten Chat bedachte, eh nicht als Alleinstellungsmerkmal des ehemaligen türkisen Kanzlers auf dem Weg nach oben taugt. Bekanntlich ging der Neos-Abgeordneten Stefanie Krisper im Ibiza-Ausschuss gut hörbar auch so manche(s) auf den Popsch. Das an einen türkisen Abgeordneten adressierte „g’schissene Arschloch“ ihres Parteikollegen Helmut Brandstätter ist ebenfalls protokolliert.

Und die Blauen, die jetzt ebenfalls auf der Empörungswelle surfen? Vergessen die Sticheleien, mit denen Herbert Kickl sich selbst gegen Norbert Hofer an der Parteispitze austauschte? Vergessen auch die braungefärbten Einzelfälle, die von Umvolkung, Tugendterror und Willkommensklatschern reden, Migranten als Ratten und die EU als „Negerkonglomerat“ bezeichen? Die mit den Identitären flirten, antisemitische Codes verwenden, dumme Wortspiele mit – meist jüdischen – Namen machen, gruseliges Liedgut pflegen, Asylsuchende „konzentriert“ in Ausreisezentren gesteckt hätten, sich vor „Schwuchteln“ und „Negern“ grausen, die Leugnung des Holocaust unter Gedankenfreiheit subsumieren. Die den Lockdown mit KZs vergleichen und zu Gericht laufen, weil man ihnen frecherweise so viel Vernunft unterstellt, sich geimpft haben zu lassen. Es war just diese FPÖ, die sowohl Pamela Rendi-Wagner als auch Beate Meinl-Reisinger offenbar für pakt- und koalitionsfähig hielten. Was bedeutet es, wenn der Zweck offenbar alle Mittel heiligt und Recht situationselastisch gebeugt wird? Statt mit aktionistischen Chatlesungen auf billigen Applaus zu spitzen, könnte Burgtheaterdirektor Martin Kušej das Publikum über den aktuellen Anlassfall hinaus mit Literatur über Macht und Machtmissbrauch politisch sensibilisieren. Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ böte sich an; Elias Canettis „Masse und Macht“; Herta Müllers „Der König verneigt sich und tötet“; Alexander Solschenizyns „Der Archipel Gulag“; Arthur Köstlers „Sonnenfinsternis“.

Auch Milan Kunderas „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ wäre lesens- und diskussionswürdig, gerade eingedenk des Vorwurfs, er habe als junger Student in den 1950er-Jahren einen Widerstandskämpfer bei den tschechischen Kommunisten denunziert. Michael Prüller hat aus Kunderas Roman in der „Presse am Sonntag“ zitiert „Wer seine Intimität verliert, der hat alles verloren. Und wer freiwillig darauf verzichtet, der ist ein Monstrum . . . Wenn ein Privatgespräch bei einem Glas Wein öffentlich im Radio gesendet wird, was heißt das anderes, als dass die Welt sich in ein Konzentrationslager verwandelt hat?“

Es gäbe brillante diskursive Weltliteratur, aus der Kušej vorlesen lassen könnte. Die Chatprotokolle zählen nicht dazu.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Dr. Andrea Schurian ist freie Journalistin. Die ehemalige ORF-Moderatorin („Kunst-Stücke“, „ZiB-Kultur“) gestaltete zahlreiche filmische Künstlerporträts und leitete zuletzt neun Jahre das Kulturressort der Tageszeitung „Der Standard“. Seit Jänner 2018 ist sie Chefredakteurin der jüdischen Zeitschrift „NU“.

P.S.:  Wer suchet, der findet!
öffnen

txt

txt right

MEDIENSPIEGEL öffnen
Wasserstoff

7 Sammelsurium

DATUM SammelsuriumKATEGORIETAGNOTESint-link
2022-12-102022-12-10 txt - Judith Hecht - PresseArchiv
 
excerpt
2022-02-222022-02-22 10x Cramolin BOOSTER 481711 Druckluftspray getgoodsShopping
2022-02-222022-02-22 Lupen-Ersatzleuchte | T4 | 12 W | 1100 lm conradShopping
2022-02-182022-02-18 Phänologischer Kalender SCNATArchiv
Viele wissenschaftliche Disziplinen befassen sich mit dem Zeitverlauf in der Natur.
Dieses Webportal bietet viel Wissenswertes rund ums Thema. 
Genaue Kenntnisse zu Ursachen und Folgen der Jahreszeiten sind wichtig in der Landwirtschaft, Wetter- und Klimaforschung, Ökologie, Medizin und für den Tourismus.

Leserbriefe:

Für den Müll öffnen
Erschienen am So, 25.7.2021

Tonnen an Lebensmitteln landen bei uns im Müll öffnen
Erschienen am So, 25.7.2021