Das Fremde und das Eigene

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Deutschland hat in Europa nicht nur wirtschaftliche und politische Macht. Unser Land ist auch eine kulturelle Macht durchaus besonderer Art. Für die, die zu uns kommen, enthält Integration diese historisch-kulturelle Zumutung - auch wenn und gerade weil sie aus muslimischen Ländern stammen.

Die friedliche Revolution, die Überwindung des Ost-West-Systemkonflikts, die Vereinigung Deutschlands und die Überwindung der Spaltung Europas: Erst 25 Jahre ist das her. Schon wieder erleben wir eine neue, dramatische Wendung der Geschichte. Hunderttausende Flüchtlinge sind nach Europa gestürmt, nach Deutschland – eine Bewegung, die manche von einer neuen Völkerwanderung sprechen lässt. Sie trifft auf ein verunsichertes, zerstrittenes Europa, Deutschland darin eingeschlossen. Niemand weiß genau, welche Veränderungen diese Entwicklung bewirken wird. Vermutlich aber werden die Wirkungen der nun nicht länger zu leugnenden Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist, viel folgenreicher sein als die der Wiedervereinigung.

Wir erleben jedenfalls, wie sich die politische Tagesordnung verändert hat – durch die Hunderttausende, die zu uns geflüchtet sind, als wäre Deutschland das Gelobte Land, das Paradies auf Erden. Welch riesige Hoffnungen, welche zu befürchtenden Enttäuschungen (denn Deutschland kann das Paradies auf Erden nicht sein), welche große Aufgabe!

Gewiss ging und geht es auch weiterhin vor allem um unmittelbare Hilfe und um menschenfreundliche Aufnahme und damit um die Bewältigung immenser praktischer Probleme. Die Willkommenskultur, die freundliche Aufnahme durch eine Mehrheit der Deutschen, ist so überraschend wie erfreulich. Sie macht mir das eigene Land unendlich viel sympathischer. Aber wir können sehen, wie schwer das durchzuhalten ist, und haben auch deshalb keinen Anlass zu moralischer Überheblichkeit.

Könnten wir das miteinander verknüpfen: Empathie mit den Flüchtlingen, menschenfreundliche Aufnahme derer, die aus Krieg und Not zu uns kommen, das herzliche Willkommen, das so viele Bürger auf beeindruckende Weise gezeigt haben – mit der nüchternen Einsicht, dass diese so sympathische Willkommenskultur übersetzt werden muss in den mühseligen Alltag von Integration, die nicht ohne viele praktische Probleme ist und ohne soziale und finanzielle Lasten nicht zu haben sein wird? Hier ist politische Rationalität gefragt und weniger der Versuch, daraus parteipolitisch Kapital zu schlagen oder gar Ängste, Unsicherheiten, Vorurteile, Wut auszubeuten für den eigenen politischen Vorteil.

Wir ahnen, dass die deutsche Gesellschaft sich durch Migration stark verändern wird. Sich auf diese Veränderung einzulassen ist anstrengend, erzeugt Misstöne und Ressentiments und macht vielen (Einheimischen) Angst, vor allem unübersehbar und unüberhörbar im östlichen Deutschland. Pegida ist dafür ein schlimmes Symptom. Vertrautes, Selbstverständliches, soziale Gewohnheiten und kulturelle Traditionen: Das alles wird unsicher, geht gar verloren. Individuelle und kollektive Identitäten werden in Frage gestellt – durch das Fremde und die Fremden, die uns nahe gerückt sind, durch die Globalisierung, die offenen Grenzen, die Zuwanderer, die Flüchtlinge. Die Folge sind Entheimatungsängste, die sich in der Mobilisierung von Vorurteilen, in Wut und aggressivem Protest ausdrücken. Genau das ist die politisch-moralische Herausforderung für die Demokratie: dem rechtspopulistischen, rechtsextremistischen Trend, der sichtbar stärker und selbstbewusster geworden ist, zu begegnen, zu widersprechen, zu widerstehen.

Was ist zu tun? Worüber müssen wir uns in unserem Land, in unserer verunsicherten, gespaltenen Gesellschaft verständigen? Notwendig ist erstens Ehrlichkeit im Ansprechen und Aussprechen der Probleme und Aufgaben durch die Einwanderung so vieler Menschen. Ohne Beschönigungen, aber auch ohne Dramatisierungen und ohne Hysterisierung, also so sachlich wie möglich, sollten Politiker über diese Probleme sprechen, aber auch die Chancen benennen.

Das heißt vor allem zu begreifen, dass eine pluralistischer werdende Gesellschaft keine Idylle ist, sondern voll von sozialem und kulturellem Konfliktpotential steckt. Das heißt auch zu begreifen, dass Integration eine doppelte Aufgabe ist: Die zu uns Gekommenen sollen, sofern sie hier bleiben wollen, heimisch werden im fremden Land – und den Einheimischen soll das eigene Land nicht fremd werden.

Heimisch werden heißt, die Chance zur Teilhabe an den öffentlichen Gütern des Landes zu haben, also an Bildung, Arbeit, sozialer Sicherheit, Demokratie und Kultur partizipieren zu können. Es heißt auch, menschliche Sicherheit und Beheimatung zu erfahren. Das ist mehr, als Politik zu leisten vermag. Gefragt ist vor allem die Zivilgesellschaft mit ihren Strukturen und Gesellungsformen, die einladend oder abweisend sein können.

Die Erfüllung dieser doppelten Aufgabe verlangt viel Kraft und viel Zeit. Erinnern wir uns an die Integration von 15 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen nach 1945: ein schwieriger Prozess, der mindestens zwei Jahrzehnte gebraucht hat. Erinnern wir uns an die sogenannten Gastarbeiter. Der Schweizer Max Frisch hat einmal gesagt: „Wir haben Arbeitskräfte gerufen, und gekommen sind Menschen.“ Die alte Bundesrepublik hat lange der Selbsttäuschung angehangen, dass man sich um die Gastarbeiter und deren Integration nicht kümmern müsse. Die Folgen dieser Fehleinschätzung sind bis heute nicht überwunden. Und erinnern wir uns an die „innere Einheit“ der Deutschen: Auch nach 25 Jahren sind nicht alle Differenzen überwunden.