So erfahre ich nur mittelbar, wie ich mich zu verhalten habe, was ich sagen darf, wie sich die unzähligen “Betroffenen” fühlen und dass Toleranz und Offenheit die wichtigsten Bestandteile unserer Gesellschaft sind.
Fakt aber ist: Es gibt sehr, sehr wenig Toleranz.
Im Gegenteil, die Schubladen werden immer enger und jede ist in sich so stark organisiert – die Plus-Size-Community, die Gay-Community, die Still-Mütter-Community, nicht zu vergessen die Impfgegner-Community.
Wenn man also etwas sagt, trifft man gleich eine ganze Gruppe, die im Zweifel besser organisiert ist als ein Promi wie ich, der alle paar Tage bei Instagram mal ein Werbevideo hochlädt.(Barbara Schönberger – 2020-11-22 „Lieber über alles lachen, anstatt über gar nichts mehr” – Die Welt)
Der Anlassfall für diesen Beitrag:
Die letzte Instanz – Der Meinungstalk mit Steffen Hallaschka im WDR Fernsehen am 2021-01-29
Das Gespräch in der Talkrunde mit Thomas Gottschalk, Jürgen Milski, Janine Kunze und Micky Beisenherz startete mit der Frage: “Das Ende der Zigeunersauce: Ist das ein notwendiger Schritt?”. Die Gäste gaben ihre persönlichen Meinungen kund und stimmten anschließend mit rot, also “nicht notwendig” ab.
(Auch ca. 84% der Zuseher fanden das “Ende der Zigeunersauce” nicht als notwendigen Schritt, wie eine – nicht repräsentative – Umfrage des WDR zeigte.)
Die Folge war ein veritabler shitstorm (nach dem Motto der (a)sozialen Medien) von “Betroffenen” und “nicht Betroffenen” (also selbsternannten Anwälten der “Betroffenen”), Aufschreie in den “normalen” Medien, Kritik von Politikern und “Zentralräten” und “Entschuldigungen” von Kunze & Co. Thomas Gottschalk war klug genug und schwieg.
Den Vogel der “shitstorm-Vermeidung” und des vorauseilenden Gehorsams schießt die WAZ ab, die ihren Artikel (2021-02-02 WDR-Talkshow sorgt für Ärger – Gäste entschuldigen sich) mit:
Anmerkung der Redaktion: In der Debatte um die hier genannten rassistisch konnotierten Begriffe wird auch die Meinung vertreten, dass man diese gar nicht mehr ausschreiben sollte. Die Benutzung der Wörter kann Probleme wie beispielsweise eine Retraumatisierung hervorrufen. Um unserer Leserschaft die Problematik der Sendung verständlich näherzubringen, lässt es sich allerdings nicht sinnvoll vermeiden, die Begriffe zu nennen.
abschließt. Damit wird allerdings mein Trauma durch die herrschende “Betroffenheitskultur” retraumatisiert.
Die Euphemismus-Tretmühle (öffnen)schließen)
Die "Euphemismus-Tretmühle" JPS 2018-01-30

Der Einsatz von "politisch korrekten" Begriffen führt - da die Konnotationen zu den "alten" Begriffen aufrecht bleiben - zu stetig notwendigen Neuschaffung von Ersatzbegriffen und damit zur Euphemismus-Tretmühle , ohne die tatsächlichen Verhältnisse zu verändern!
Der Philosoph Slavoj Žižek weist - m.E. äusserst zutreffend und wichtig - darauf hin, dass sich „politisch korrekte“ Begriffe abnutzten (die Ersatzbegriffe erben mit der Zeit die Bedeutung des Wortes, das sie ersetzen sollten), wenn sie nicht mit einer Veränderung der sozialen Wirklichkeit einhergingen.
So sei allein durch eine fortwährende Neuschöpfung von Ersatzbegriffen (wie in dem US-amerikanischen Beispiel Negro – black people – coloured people – African-Americans) noch keine Veränderung erzielt, wenn nicht den Worten eine tatsächliche soziale Integration folge.
Die rein sprachliche Prägung immer neuer Begriffe enthülle die Unfähigkeit, die tatsächlichen Ursachen von Rassismus und Sexismus allein durch Sprachpolitik zu überwinden.
Zudem entstehe durch die laufende Neuschaffung von Begriffen eine exzessive Struktur, da jeder Begriff durch den folgenden seinerseits unter Diskriminierungsverdacht gestellt und entwertet werde. Dieser Effekt wird auch "Euphemismus-Tretmühle" genannt.
Laut Žižek versuche die Geisteshaltung der „politischen Korrektheit“ durch ihre zirkuläre Selbstbezogenheit alle Spuren der Begegnung mit „dem Realen“ ( Jacques Lacan) zu beseitigen.
„politisch korrekte“ Begriffe bringen keine Veränderung,
wenn sie nicht mit einer Veränderung der sozialen Wirklichkeit einhergehen!
P.S.: Ob die wortreiche Entschuldigung von J. Kunze wirklich so gemeint ist oder eher zur “Rückeroberung” von likes dienen soll
(denn, wie sie selbst sagte:”Es gibt Produktionsfirmen, die besetzen “Schauspieler” nach likes”), mag der Leser selbst beurteilen.
P.P.S.: Besonders bizarr erscheint die (gezielt gesteuerte?) Aufregung unter dem Gesichtspunkt, dass es sich um eine Wiederholung einer bereits am 2020-11-30 (!!) ausgestrahlten Sendung handelt.
Die Entschuldigung der WDR-Unterhaltungschefin Karin Kuhn „Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass wir diese ernsten Themen in einer so unpassenden Gästezusammenstellung produziert und ausgestrahlt haben. Ich kann es nicht anders ausdrücken: Diese Folge ist misslungen. Das hätten wir anders und besser machen können und müssen“ klingt da mehr als scheinheilig.
2021-02-02 WDR-Talkshow sorgt für Ärger – Gäste entschuldigen sich – WAZ
2021-02-01 Zigeunersauce und Co: Entschuldigungen nach Rassismus-Vorwurf im WDR – WDR
2021-01-29 Die letzte Instanz – Der Meinungstalk mit Steffen Hallaschka ∙ WDR Fernsehen (Wiederhoung vom Mo 30.11.2020)
2021-02-01 Abstimmung “Letzte Instanz” – WDR
2020-07-13 Ruf nach Zensur: Die Kontrolle der Sprache als Anti-Aufklärung – Hans Winkler – Presse
2018-15-14 Warum Sie nicht „gendern“ müssen – Cordula Simon – Presse