Sollte der Text online nicht mehr verfügbar sien, finden Sie diesen im ARCHIV

Sollte der Text online nicht mehr verfügbar sien, finden Sie diesen im ARCHIV

Sollte der Text online nicht mehr verfügbar sien, finden Sie diesen im ARCHIV

Nach der Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ durch den Verfassungsschutz (BfV) fordert der Bochumer Politikwissenschaftler Oliver Lembcke mehr Informationen zu den Hintergründen. Wie es seitens des Verfassungsschutzes hieß, sei Grundlage der nun getroffenen Entscheidung ein umfangreiches Gutachten, das nur für den internen Dienstgebrauch bestimmt sei. Eine Veröffentlichung dieses internen Arbeitspapiers sei nicht vorgesehen.
„Es ist verständlich, dass das BfV vorsichtig agiert – und aufgrund der Sensibilität des Themas und der Daten auch agieren muss“, sagte Lembcke WELT AM SONNTAG. „Aber diese Entscheidung wird die öffentliche Debatte massiv beeinflussen.“
„Wenn die Bürgerschaft sich ein Bild über die Lage und die Konsequenzen eines Verbots oder Verbleibs der AfD im deutschen Parteiensystem machen soll, dann reicht die Einstufung durch eine Behörde nicht aus. Die staatlichen Akteure werden einen Ausgleich zwischen Quellenschutz und Entscheidungstransparenz finden müssen“, sagte Lembcke. „Andernfalls wächst nur die Polarisierung, die bei diesem Thema ohnehin schon bedenklich hoch ist.“
Ganz überwiegend stützt sich die Einschätzung des Verfassungsschutzes auf öffentlich zugängliche Quellen. In das Gutachten flossen jedoch auch vertraulich eingestufte Informationen ein, wie WELT AM SONNTAG aus Sicherheitskreisen erfuhr. Das gilt demnach als Hauptgrund dafür, dass das 1100 Seiten starke Gutachten bislang nicht veröffentlicht wurde.
„Verfassungsschutz keine unabhängige, objektive, wissenschaftliche Instanz“
Der Staatsrechtler Volker Boehme-Neßler kritisiert die Geheimhaltung des Gutachtens scharf. „Der Vorgang ist skandalös. Der Verfassungsschutz fällt ein hartes Urteil, begründet es wenig plausibel und hält die angeblichen Belege für seine Einschätzung geheim“, sagte Boehme-Neßler WELT AM SONNTAG. „Selbstverständlich darf der Verfassungsschutz Unterlagen geheim halten. Es ist ja ein Geheimdienst. Aber dann darf er sich nicht in die Parteipolitik einmischen, was er hier tut.“
Boehme-Neßler, der an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg lehrt, betonte: „Man muss sich bewusst sein, dass der Verfassungsschutz keine unabhängige, objektive, wissenschaftliche Instanz ist. Er ist eine weisungsgebundene Behörde, die dem Innenministerium untersteht.“
Mit Blick auf ein von einigen Politikern gefordertes AfD-Verbotsverfahren sagte der Jurist: „Rechtlich hat dieser Vorgang keine Relevanz. Ein Verbotsverfahren kann sich darauf nicht stützen. Dafür müsste nachgewiesen werden, dass die Partei aggressiv-kämpferisch gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung arbeitet. Bloßes Reden würde dafür nicht reichen. Die Partei müsste aktiv handeln. Das sehe ich hier nicht. Das behauptet noch nicht einmal der Verfassungsschutz.“
Für ein Parteiverbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gälten „andere Kriterien“. Auch mögliche Entlassungen von Beamten oder Arbeitnehmern, die Mitglied oder Sympathisanten der AfD sind, können nicht auf die Einschätzung des Verfassungsschutzes gestützt werden. Dafür kommt es auf das individuelle Verhalten an.
Boehme-Neßler sagte mit Bezug auf die geschäftsführende Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD): „Ich halte das für ein durchsichtiges politisches Manöver von Nancy Faeser. Sie will den politischen Gegner und dessen Wähler einschüchtern. Sie beendet ihr Amt so, wie sie es in den letzten Jahren ausgefüllt hat: ideologisch, strikt parteipolitisch orientiert, ohne Sinn für das, was einer Demokratie angemessen ist.“
Nach Recherchen von WELT nennt das Gutachten unter anderem folgende drei Beispiele, die die Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextremistische“ Partei belegen sollen:

1. Hannes Gnauck, AfD-Bundesvorstand, sagte am 11. August 2024 im brandenburgischen Zossen:
„Wir müssen auch wieder entscheiden dürfen, wer überhaupt zu diesem Volk gehört und wer nicht. Es gehört mehr dazu, Deutscher zu sein, als einfach nur eine Staatsbürgerurkunde in der Hand zu haben. Uns alle hier auf diesem Marktplatz verbindet viel mehr als nur eine gemeinsame Sprache. Uns verbindet ein unsichtbares Band, was man einfach nicht erklären muss. Jeden einzelnen von euch verbindet mehr mit mir als irgendein Syrer oder irgend Afghane, und das muss ich nicht erklären das ist einfach ein Naturgesetz.“
2. Dennis Hohloch, Abgeordneter des Landtags, warnte am 25. August 2024 in Brandenburg (Havel) vor einem hohen Migrantenanteil:
„Vielfalt bedeutet Multikulti. Und was bedeutet Multikulti? Multikulti bedeutet Traditionsverlust, Identitätsverlust, Verlust der Heimat, Mord, Totschlag, Raub und Gruppenvergewaltigung.“
3. Martin Reichardt, Mitarbeiter des Bundestages, kritisierte im November auf der Plattform X eine „verfehlte Migrationspolitik“:
„Verfehlte Migrationspolitik und Asylmissbrauch habe zum 100.000-fachen Import von Menschen aus zutiefst rückständigen und frauenfeindlichen Kulturen geführt“. Der Tweet ist online nicht mehr abrufbar.
Die beiden Co-Vorsitzenden der AfD, Alice Weidel und Tino Chrupalla, kritisierten die Einstufung ihrer Partei als schweren Schlag gegen die Demokratie. „Die Bundesregierung ist nur noch vier Tage im Amt. Der Geheimdienst verfügt noch nicht einmal mehr über einen Präsidenten. Und die Einstufung als sog. ‚Verdachtsfall‘ ist nicht rechtskräftig abgeschlossen“, schrieben die beiden Politiker in einer in Berlin verbreiteten Presseerklärung.
Der designierte Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) geht davon aus, „dass es zu einer gerichtlichen Überprüfung der Einstufung kommen wird“. Unabhängig davon führe das Gutachten „zwingend dazu, dass eine weitere Beobachtung der AfD stattfinden wird“, erklärte er.

Die fatale Signalwirkung der neuen AfD-Einstufung
Bin ich jetzt gesichert rechtsextrem?

Neu ist die große Bühne für Javier Milei in Davos nicht mehr, und neu ist auch nicht, dass er zwar in dem größten aller Säle sprechen darf, aber sonst bei Ankündigung und Abgang nur mit einem B-Promi-Programm versorgt wird.

Vielleicht hat das die Kampfeslust des argentinischen Generalreformers zusätzlich angeheizt, jedenfalls versuchte es Milei in Davos am Donnerstag gar nicht erst mit Charme oder gar Konzilianz. Ganz im Gegenteil, er lebte seine Neigung zur Provokation weidlich aus.

Zumal er sich in der Offensive sieht. So sehr Argentinien in der Vergangenheit ein abschreckendes Beispiel gewesen sei, sei es nun ein Vorreiter. „Nur wenige werden bestreiten, dass die Winde des Wandels im Westen wehen“, sagte er und fügte hinzu: „Ich fühle mich nicht mehr so allein.“ Dann schwärmte er von den „internationalen Allianzen“, die sich nun bildeten mit ihm, Donald Trump, Giorgia Meloni („die wilde italienische Dame, meine gute Freundin“), Viktor Orbán, Benjamin Netanjahu, Nayib Bukele aus El Salvador und „dem wunderbaren Elon Musk“.

Deutlich, und sei es nur durch die Schwerpunktsetzung, wurde in der halbstündigen Rede auch, dass sein Reformeifer keineswegs so wirtschaftszentriert ist wie zuweilen wahrgenommen. Der Kampf gegen Argentiniens traditionelles Zwillingsübel – hohe Inflationsraten gepaart mit exorbitanten Budgetdefiziten, ein durchaus interessierendes Thema vor einem Managerpublikum –, kam bei Milei eher am Rande vor.

Vielmehr gab er den Kulturkämpfer. Das Grundübel, das den Westen plage, sei ein „kranker Wokismus“, die „wichtigsten Institutionen“ seien von dieser Ideologie „kolonisiert“ worden, auch sein Gastgeber, das Weltwirtschaftsforum, habe sich als „Promoter der sinistren Agenda des Wokismus“ positioniert. Die „wachsame“ Politik gegenüber sozialer Ungerechtigkeit, Rassismus und Diskriminierung sei „die große Epidemie“, „der Krebs“ unserer Zeit, der sich in die Regierungen und Organisationen des Westens eingefressen habe.

Der Westen sei „irgendwann im 20. Jahrhundert vom Weg abgekommen“ und habe „die liberalen Prinzipien, die uns wohlhabend gemacht haben, betrogen“, sagte Milei. „Eine neue politische Klasse, unterstützt durch kollektivistische Gerichte und Momente der Krisen, sahen das als perfekte Gelegenheit, Macht anzuhäufen.“

Die Gleichheit vor dem Gesetz sei fortan nicht mehr genug gewesen, „eine Goldmine für Bürokraten mit omnipotenten Ambitionen“. Jede Säule der westlichen Zivilisation sei ausgetauscht gegen eine verzerrte Version ihrer selbst. Die Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum seien ersetzt worden durch „eine künstliche, unendliche Menge an positiven Rechten“ – durch Ansprüche, die nur garantiert werden könnten „durch eine unendliche Ausdehnung des schrecklichen Staates“.

„Umgekehrte Kolonialisierung“ des Westens, erkennt Milei
Soweit wären viele Davos-Teilnehmer wohl noch mitgegangen, aber was dann folgte, war ein bemerkenswerter Rundumschlag. „Feminismus, Diversität, Inklusion, Gleichheit, Immigration, Abtreibung, Ökologismus, Genderideologie, unter anderen, sind alle Köpfe der gleichen Kreatur, die nur den Zweck haben, die Expansion des Staates zu rechtfertigen.“ Eine „Massenmigration, getrieben durch Schuldgefühle“, zum Beispiel bringe „Horden“ von Einwanderern in die Länder des Westens und führe zu einer „umgekehrten Kolonialisierung“.

Nun sei es „Zeit, mutig zu sein“, rief Milei noch und: „Make the West great again“. Dann verließ er noch, durchaus außergewöhnlich, aber auf ausdrücklichem eigenem Wunsch, die Bühne nach vorn, um ein kurzes Bad in der Menge zu nehmen.

Die Stimmung im Publikum aber war eher verdattert denn euphorisch, der Beifall eher spärlich. Wer darauf gewartet hatte, aus erster Hand erklärt zu bekommen, wie sich eine morsch gewordene Wirtschaftsordnung sanieren und reformieren lässt, wartet noch immer.

Dabei hätte Milei durchaus erste wirtschaftliche Erfolge seiner inzwischen 13-monatigen Amtszeit präsentieren und um Investoren für sein Land werben können. Die Geldentwertung hat er von fast 300 Prozent auf 117 Prozent reduziert, der freie Fall des argentinischen Peso scheint gestoppt und es sieht ganz so aus, als könnte sein Land schon bald an die Finanzmärkte zurückkehren und Schulden über die Ausgabe neuer Anleihen aufnehmen.

Argentinien gilt nach zahlreichen Staatspleiten wieder als kreditwürdig. Ablesen lässt sich das am Kurs einer Dollar-Anleihe, die sich im Kurs vervierfacht hat und inzwischen wieder bei knapp 80 Cent pro Dollar handelt.

Mit Mileis – rhetorischem – Kampf gegen den Wokismus hat das aber eher wenig zu tun.
____
“Der Westen sei „irgendwann im 20. Jahrhundert vom Weg abgekommen“ und habe „die liberalen Prinzipien, die uns wohlhabend gemacht haben, betrogen“, sagte Milei. „Eine neue politische Klasse, unterstützt durch kollektivistische Gerichte und Momente der Krisen, sahen das als perfekte Gelegenheit, Macht anzuhäufen.“

Eine moderne Definition der Dekadenz, Chapeau!
____
Die bemerkenswerteste politische Rede der letzten Jahrzehnte, verdient es, im Original gehört zu werden. Die zentrale Botschaft ist, dass viele Länder – entgegen den Grundprinzipien liberaler Staaten, die in ihren Verfassungen auf das Individuum abstellen – ganzen Gruppen von Menschen Privilegien gewährt haben – gegenüber anderen Gruppen und dass die Staatsbürokratien aufgebläht wurden, um diese Sonderrechte durchzusetzen. Milei erfasst die Systematik besser als andere und beschreibt die Situation wunderbar eloquent. Der Mann hat mehr als jeder andere Politiker die Mittel dazu, Reformen anzustossen, die dem Wohle der Menschen dienen.