Stadt gegen Land, Reich gegen Arm, Jung gegen Alt, Bildungsnah gegen Bildungsfern, Progressiv gegen Strukturkonservativ oder Rechtspopulistisch, Männer gegen Frauen und andersherum: Die Gesellschaft scheint sich auch in Deutschland zunehmend zu spalten, der Diskurs* zu verrohen, wie auch ein Blick in die Sozialen Netzwerke zeigt. Der Ton ist häufig aggressiv – wenn sich die Menschen überhaupt noch über ihre eigene Blase hinaus mit anderen Menschen auseinandersetzen. Wichtig für eine geeinte Gesellschaft ist jedoch, sich auf grundsätzliche Dinge verständigen zu können.
- Wolfgang Thierse hat eine Debatte über Identitätspolitik* angestoßen, die wir an folgenden Stellen weiterführen.
- Kommentar von Anna Seibt über Privilegien und Machtpositionen
- Interview mit Gesine Schwan über die Debatte in der SPD
- Interview mit Meron Mendel über Gefühle und Argumente
- Kommentar von Stephan Detjen über Journalismus als identitätspolitisches Bekenntnis
- Interview mit Andrea Geier über Verschiedenheit
- „Auf der Suche nach dem Wir“ – die Denkfabrik von Deutschlandradio
Wolfgang Thierse: Meine Beobachtung ist folgende. Wir leben in einer wahrlich pluralen Gesellschaft – ethnisch-kulturell, religiös-weltanschaulich, kulturell-sozial. Dieses Zusammenleben funktioniert nur, wenn wir erstens Ja sagen zu dieser Vielfalt, wenn wir sie akzeptieren – das ist nicht selbstverständlich – und wenn wir zugleich uns Mühe geben, an dem Wir zu arbeiten, an den Gemeinsamkeiten, das was uns verbindet. Eine Gesellschaft kann nicht nur funktionieren, wenn die einzelnen Gruppen, wenn die Verschiedenen nur auf ihrer Verschiedenheit bestehen, auf ihrer Identität, dem Nebeneinander oder Gegeneinander von berechtigten Gruppeninteressen und Ansichten, sondern wenn wir uns immer wieder neu der Mühe unterziehen, das Gemeinsame in unseren Vorstellungen von Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Menschenwürde zu finden, auch in dem, was geschichtlich geprägte kulturelle Normen, Erinnerungen, Traditionen sind. Darauf müssen sich die Anstrengungen richten, und mein Eindruck ist, dass das gegenwärtig viel weniger passiert, als es notwendig ist, dass viel schärfer die Identität hervorgehoben wird, das Gegeneinander, mit einer Radikalität und Engführung, die etwas Beängstigendes hat.
„Menschen werden vom Diskurs* ausgeschlossen“
„Ich werde als reaktionär beschimpft“
Thierse: Jedenfalls in der Art, wie sie geführt werden. Sehen Sie, mein Text ist ja ein Appell, mehr Anstrengungen für Gemeinsamkeit zu übernehmen, das Gemeinsame immer neu im Verschiedenen, ohne die Vielfalt beseitigen zu wollen, sondern Vielfalt kann nur friedlich und produktiv gelebt werden, wenn wir fundamentale Gemeinsamkeiten haben. Dieser Appell hat zu einem Shitstorm geführt. Ich werde als reaktionär beschimpft, als Mann mit neurechtem Sprech, gewissermaßen AfD-Positionen. Vom Schwulen- und Lesbenverband wird das getrieben. Mir wird vorgehalten, das sind ja die Ansichten eines alten weißen Mannes mit heterosexueller Orientierung, heteronormativer Orientierung. Da erleben Sie genau das. Eine Ansicht, die einem nicht passt, die wird identitär zurückgewiesen. Mein Alter, meine „Rasse“, mein Geschlecht, meine sexuelle Orientierung – also ist die Sache erledigt. Man muss sich mit der Ansicht nicht befassen. Man kann sie einfach ablegen, weil sie so von einem Menschen, der ja immer definiert ist mit einer bestimmten Identität, vorgetragen worden ist.
„Wir müssen auch über Diskriminierung reden“
Thierse: Natürlich! Aber wir müssen auch über Diskriminierung reden. Selbstverständlich! Ausdrücklich über den Rassismus in Deutschland. Aber ich wünsche mir, dass man das sehr genau und differenziert tut. Meine Sorge oder meine Beobachtung ist ja, dass die Rede vom strukturellen allgegenwärtigen Rassismus eher dazu führt, dass ganz viele Leute in Deutschland sich dagegen wehren und den Eindruck haben, nur weil ich weiß bin, bin ich schon Rassist.
„Das ist demokratiefeindlich“
Thierse: Ohne Zweifel sehe ich den. Die Identitätspolitik* von rechts ist eine Politik, die zu Ausschließung, zu Hass, ja zu Gewalt führt. Und die Identitätspolitik* von links führt, wenn sie weiter so einseitig und in dieser Radikalität betrieben wird, zu Cancel Culture. Das heißt, man will sich nicht mehr mit Leuten auseinandersetzen, diskutieren, den Diskurs* führen, die Ansichten haben, die einem nicht passen. Das ist ziemlich demokratiefremd und, wenn ich das sagen darf, demokratiefeindlich. Eine pluralistische Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn in ihr die Unterschiedlichkeiten zu Wort kommen, artikuliert werden, im Gespräch miteinander sind – mit dem Ziel, die Unterschiede nicht zu verwischen, aber trotzdem auf die gemeinsamen Grundlagen des Zusammenlebens zu kommen.
Thierse: Gendergerechte Sprache wird verordnet
Thierse fordert Argumente statt Betroffenheit
Thierse: Ich glaube schon, dass bei der Radikalisierung dieser Forderung das eher zur Spaltung beiträgt. Wissen Sie, es wird inzwischen ein Stil sichtbar, dass derjenige, der sagt, ich bin betroffen, ich fühle mich ausgeschlossen, ich empfinde mich als Opfer, dass der schon recht hat. Aber unsere Tradition seit der Aufklärung ist doch die, nicht die Betroffenheit, nicht das subjektive Empfinden darf entscheidend sein, sondern das vernünftig begründende Argument, das muss uns miteinander verbinden, das muss den Diskurs* strukturieren. Denn sonst ist klar: Thierse ist ein alter weißer heterosexueller Mann. Seine Ansichten sind so definiert und damit ist der Fall erledigt. Da wird gar nicht mehr hingehört, welche Argumente hat er denn, welche Erfahrungen formuliert er, welche Vorschläge macht er, was ist das Ziel seines Redens, sondern es ist definiert durch Herkunft, durch Identität, und dann kann man sagen, nein, das ist nicht meine, meine ist anders, ich fühle mich benachteiligt, also habe ich recht.
„Ich bin doch kein Anhänger von Verboten“
Thierse: Die Bedeutungsgeschichte im Blick haben
„In jedem konkreten Fall diskutieren“
„Konkurrierende Ansichten werden schlicht zurückgewiesen“
Thierse: Nach meiner Beobachtung ja. Man braucht nur schauen auf Pegida-Demonstrationen, jetzt auf die Demonstrationen in Sachen Corona. Der eigene Standpunkt, die eigene Überzeugung wird absolut gesetzt und etwa wissenschaftliche, und das heißt ja immer auch konkurrierende Ansichten werden schlicht zurückgewiesen. Das ist das Grundmuster der Verschwörungsmythen. Das ist etwas, was unsere Gesellschaft krank macht, weil darin der normale Streit von Ansichten, Meinungen, Interessen gefährdet ist.
Blackfacing, kulturelle Aneignung und Cancel Culture
Thierse: Wissen Sie, ein elementarer Teil von Kulturgeschichte und von Kultur ist unsere Fähigkeit, unsere Leidenschaft, Fremdes, bisher Fremdes, Anderes anzueignen, sich anzuverwandeln an das andere und es damit zu eigenem zu machen.