Warum sind die Linken nicht mehr links? Diese Frage stellt sich mir schmerzhaft, schaue ich auf die erhitzten Debatten dieser Tage. Greift man beispielsweise zur linken Tageszeitung „taz“, so findet man einen Artikel über das Interview von Meghan Markle und Prinz Harry.
Eigentlich wäre das eine Steilvorlage für jeden Journalisten, der die kalkulierte Inszenierung und ihre materiellen Interessen enttarnen möchte. Als Pointe könnte man leicht herausfinden, wie ein royales Ehepaar nach Hollywood zieht und sich dort als Opfer inszeniert, um das Geschäft mit der eigenen Berühmtheit anzukurbeln.
Doch die „taz“ will nichts von diesem Marketingcoup erkennen und feiert stattdessen Prinzessin Markle als Stimme aller diskriminierten Minderheiten. Es schmerzt zu lesen, wie eine linke Zeitung blind ist für kommerzielle Interessen und wie sie den Trick nicht durchschaut, sich als Opfer zu feiern, um den Marktwert zu steigern. Im Pisa-Test „dialektisches Denken“ würde die „taz“ inzwischen auf den hinteren Plätzen landen.
Wie konnten Linke ihre faszinierende Intelligenz, das Denken in Widersprüchen, verlernen? Oder noch mal anders gefragt: Handelt es sich überhaupt noch um linkes Denken, wenn Widersprüche nicht mehr erkannt und analysiert werden?
Ich beantworte diese Frage mit einem klaren Nein. Wie weit sich die Linken von der Kritik der Verhältnisse verabschiedet haben, zeigt ein neues Wort: „Woke“ ist das neue Links. Als woke bezeichnen sich diejenigen, die sich selbst als „erwacht“ sehen und nun mit schreckgeweiteten Augen umherschauen.
Schmalspurbahn des Narzissmus
Beispielhaft für die neue Furchtsamkeit ist die junge Frau aus gutem Hause, die als Studentin nach Berlin zieht und hier zu Studienbeginn einen Workshop „Intersektionaler Feminismus“ besucht. Hier erlernt sie in wenigen Stunden die Schlagworte, mit denen sie seitdem ihre Welt beschreibt.
Ohne große Mühe verfügt sie jetzt über ein Werkzeug, mit dem sie brillieren kann. Wenn ihr etwas nicht passt, erwidert sie einfach: Ich fühle mich verletzt, und das ist typisch für das Patriarchat. Wer sich dabei an die „Spiegel“-Kolumnistin Margarete Stokowski erinnert fühlt, liegt nicht ganz falsch.
Ihre Texte gehören zur Lieblingslektüre der jungen Frau, denn sie laufen auf der gleichen Schmalspurbahn des Narzissmus. Am Anfang aller Rede steht die Verletzung, und am Ende aller Probleme wartet zuverlässig das Patriarchat. Der woke Blick ist die Einstiegsdroge für ein Leben in der Dauerempörung.
Der Woke entdeckt in jedem Bild und jedem bösen Wort das ganze Elend der Welt. Dann muss beispielsweise aus der Zigeunersauce unbedingt eine Paprikasauce werden. Das könnte ein harmloses Hobby sein, wenn sich auf der Rückseite nicht etwas abspielte, was das Gegenteil von linker Politik ist.
In diesem Fall hat das Saucenunternehmen, das durch viel Getöse zur Namensänderung genötigt wurde, die Ablenkung genutzt, um die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Das Management hat den neuen Kapitalismus perfekt verstanden und mit den woken Aktivisten zusammengearbeitet.
Die Methode lautet: Unterwirf dich den sprachsensiblen Forderungen, sodass die Aktivisten einen Triumph feiern, und nutze die Aufregung, um die Rendite zu steigern. Man kann sich denken, was die Arbeiter davon halten, nun mit weniger Lohn die neuen Etiketten der Paprikasauce auf die Flaschen zu kleben.
Was ist also mit den Linken passiert? Die einfache Antwort lautet, sie wurden mal wieder enteignet. Die traditionelle Linke hat dafür gekämpft, dass vom erarbeiteten Wert nicht alles in die Taschen des Kapitalisten wandert. Arbeitskämpfe und Sozialgesetze waren der politische Widerstand gegen die Enteignung der Arbeiterinteressen.
Die woke Enteignung passiert auf einer anderen Ebene. Sie hat die materiellen Interessen mit der symbolischen Ebene getauscht. Die Zigeunersauce ist der neue Hauptwiderspruch, der Stundenlohn ist Nebensache.
Unter dem Deckmantel linker Politik
Woke Linke vertreten nicht mehr die Interessen der Beschäftigten, sondern die Interessen eines akademischen Milieus. Ihre Enteignung ist besonders raffiniert, weil sie dabei unter den Mantel linker Politik schlüpfen und alle nicht woken Genossen herausdrängen.
Wolfgang Thierse durfte das gerade erleben. Sein klassisch sozialdemokratischer Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, in dem er die gesellschaftliche Spaltung beklagt, riss die Parteiführung der SPD dazu hin, sich öffentlich für ihn zu schämen.
Die kleine, lautstarke Arbeitsgemeinschaft SPDqueer hatte sich verletzt gefühlt, also muss Thierse als alter weißer Mann beleidigt werden und soll sich der neuen woken Direktive unterwerfen. Seine Antwort war ebenso souverän wie sein Text: Er bot Saskia Esken und Kevin Kühnert seinen Parteiaustritt an.
Auch dieses Beispiel zeigt, der woken Linken geht es nicht um die materiellen Lebensbedingungen, sondern um eine Säuberung ihrer Lebenswelt. Die Werte der sozialen Linken waren Solidarität, Inklusion und gleichberechtigte Chancen. Ihre politische Methode bestand vor allem in der klugen Analyse der Herrschaftsverhältnisse, und ihre rhetorische Kraft bezog sie aus dem dialektischen Denken.
Die woke Linke macht hingegen die persönliche Sensibilität zum Maßstab. Sie schaut mit einem moralischen Blick auf die Verhältnisse, und ihre wichtigste Waffe ist die Empörung. Die soziale Linke wollte die Menschen befreien, indem sie die beengten Verhältnisse aufsprengt. Die woke Linke will die Menschen erziehen und macht ihr eigenes Leben dabei zum Vorbild.
Einst bedeutete „links“ Emanzipation, heute bedeutet es Bevormundung. Das woke Links hat die schlechte Seite des DDR-Sozialismus – die gegenseitige Überwachung und Kontrolle des privaten Lebens – mit den schlechten Seiten des US-Kapitalismus – jeder Einzelne fühlt sich als Nabel der Welt – zusammengebracht.
Welche absurden Widersprüche eine solche Disneyland-Version linker Politik hervorbringt, zeigt ein Bezirk in Berlin-Mitte. Der Prenzlauer Berg ist zum Symbol aller wohlmeinenden Milieus geworden. Wer hier wohnt, teilt die gleiche Weltanschauung und gehört einer ähnlichen Vermögensklasse an. Man tritt vehement für eine offene Gesellschaft ein, doch achtet jeder pedantisch darauf, dass im Kiez alles so bleibt, wie man es gewohnt ist.
Große Einigkeit herrscht in der Frage, wo der Feind wohnt: Irgendwo da draußen im Land hausen die gefährlichen Menschen, die Fleisch essen und keine Freunde der ungeregelten Migration sind. Das sind die rechten Wutbürger, vor denen die großen Zeitungen und die öffentlich-rechtlichen Medien immer warnen. Und wie es der Zufall will, wohnen zahlreiche dieser Medienmacher im Prenzlauer Berg.
Wie fern diesem Milieu das dialektische Denken liegt, zeigt sein rücksichtsloser Umgang mit der eigenen Doppelmoral. In der heilen Welt sind natürlich alle für Flüchtlinge. Denn man ist sich sicher: Nachbarn werden sie niemals werden, da die Mieten viel zu hoch sind.
Und in der heilen Welt muss auch niemand umziehen, um sein Kind auf eine Schule mit einem geringeren Migrationsanteil schicken zu können, denn der ist im Prenzlauer Berg überall nahe null. Wenn es Migranten gibt, dann sind es Softwareentwickler oder Künstler aus den spannenden Zonen der Welt, und mit denen ist man selbstverständlich per Du.
Die Prenzlauer-Berg-Doppelmoral ist die real gewordene Wokeness der deutschen Mittelschicht. Sie ist ein Herrschaftsmittel, um die eigene Welt rein zu halten. Die geliebte Kanzlerin dieses Milieus ist selbstverständlich Angela Merkel.
Sie hat in virtuoser Weise vorgeführt, wie weit man mit der Doppelmoral kommen kann. 2015 hat sie sich geweigert, die Grenzen zu schließen, und überließ diese Drecksarbeit den osteuropäischen Staaten und der Türkei. Deutschland blieb Moralweltmeister, die anderen sind die Bösen.
Die erfolgreichste Machtpolitik besteht schon immer darin, die eigenen Privilegien zu verteidigen, indem man sich selbst zum Opfer und zum guten Menschen macht. Die Wokeness erfüllt genau diese Funktion. Damit sie auch weiterhin funktioniert, muss sie mit allen Mitteln die Enttarnung ihres Geschäftsmodells abwehren.
So erklärt sich das paradoxe Verhalten aller woken Zeitgenossen: Sie agieren mit größter Sensibilität, wenn es um ihre eigenen Kränkungen geht, und sie schlagen mit ungezügelter Aggression gegen jeden, der es wagt, sie zu kritisieren. Ihre Kränkung wird zum Freifahrtschein, andere beleidigen und bedrohen zu dürfen. Die Empörung ist der emotionale Schutzschirm vor der Doppelmoral.
Die Macht der Empörung
Die Macht der Empörung liegt darin, dass sie unbesiegbar macht. Das Argument kann noch so gut sein, die Empörung münzt es zu einem Angriff auf das eigene Gefühl um. Und schon ist man wieder verletzt und kann mit noch mehr Empörung reagieren. Empörung ist eine Waffe, mit der man zum Opfer wird, das immer Sieger bleibt.
So wie Prinzessin Markle ihren Marktwert immens steigern konnte, weil sie öffentlich über den Rassismus der Windsors weinte, so steigert jeder, dem es gelingt, als Opfer zu erscheinen, seinen Wert.
Wer es als Hollywoodstar nicht geschafft hat, mit Greta Thunberg auf einem Foto zu sein, der kann noch immer den Hashtag #blacklivesmatter in seinem Account führen und regelmäßig Tränen über den strukturellen Rassismus in die Kamera weinen. Woke ist die höfische Sprache der Schönen und Erfolgreichen. Wer glänzen will, muss es im Gewand der Unterdrückten tun.
Dass es sich bei diesem Trick um das Gegenteil von linker Politik handelt, ist offensichtlich. Einst wollten Linke die Menschen aus der Unmündigkeit und den Zwängen von Armut, Familie, Religion und Nation befreien.
Heute wollen die Woken, dass man ihren Verletzungen bedingungslos glaubt. Alle Welt soll so denken und vor allem so fühlen wie sie. Sie erlassen Sprechvorschriften, zensieren Kinderbücher, prangern Andersdenkende an und zeichnen sich in ihrem Reinigungsfuror durch eine schmallippige Humorlosigkeit aus.
Ihr Amoklauf der Sensibilität verwandelt den Alltag in eine Zone des Kulturkampfes, wo jedes Nackensteak zum Symbol menschlicher Verkommenheit wird. Die Woken sind die schreckliche Gouvernante der Linken. Sollten sich die wenigen Linken, die sich noch an die Kunst der Dialektik erinnern können, nicht bald aus dieser Knechtschaft befreien, so enden sie als Streber in der Sonntagsschule der Moralisten.
Je länger emanzipatorische linke Politik in der Moralfalle woker Akademiker schmort, desto mehr Menschen wenden sich von ihr ab. Was mit einer Gesellschaft passiert, in der die woken Aktivisten die öffentlichen Räume beherrschen, ist bereits in den USA zu sehen.
Die Errungenschaften der Meinungs- und Kunstfreiheit werden zurückgedreht, und die politischen Debatten werden als Krieg zwischen verfeindeten Stämmen ausgetragen. Der Rückfall in die Stammesgesellschaft blockiert jeden demokratischen Prozess und ist für eine komplexe Industrienation brandgefährlich. Die dialektischen Linken wussten, jede Gegenwart hat ihre eigene Variante der Regression, vor der sie sich schützen muss.
Die ernste Bedrohung unserer Zeit geht überraschenderweise nicht nur von den rechten Rändern aus, sondern auch von denjenigen, die sich selbst als „erwacht“ bezeichnen und für die Spitze des Fortschritts halten. Zu erkennen, dass genau das die Lüge ist, die zum Kern woker Doppelmoral gehört, steht am Beginn der linken Emanzipation.
Bernd Stegemann ist Dramaturg am Berliner Ensemble und Autor. Sein neues Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ ist bei Klett-Cotta erschienen.